Zur Halbzeit der EU-Ratspräsidentschaft der deutschen Bundesregierung richtete die EU-Kommission in ihrer Berliner Vertretung am 10. November eine digitale Veranstaltung unter dem Titel „Ein starkes Europa für einen gerechten Übergang“ aus. Präsent waren unter strengen Corona-Schutzmaßnahmen die Teilnehmenden der Diskussionsrunde. Es sprachen EU-Kommissar Nicolas Schmit, Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) Steffen Kampeter, Geschäftsführer der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Dr. Klaus-Peter Stiller vom Bundesarbeitgeberverband Chemie, Rainer Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), und Prof. Dr. Ursula Engelen-Kefer, Vizepräsidentin des SoVD. Etwa 180 Interessierte waren über Webex zugeschaltet.
Sowohl EU-Kommissar Nicolas Schmit als auch Bundesarbeitsminister Heil betonten in ihren einführenden Statements die dringende Notwendigkeit, die sozialen Aspekte in der EU zu stärken. Diese seien seit der Finanzkrise 2008/09 vernachlässigt worden, müssten jedoch für die Zukunft Europas gerade vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie nach vorne rücken, um Glaubwürdigkeit und Vertrauen bei den Bürgern Europas wiederherzustellen. Die im November 2017 von der EU eingeführte „Europäische Säule Sozialer Rechte“ setze hierzu einen guten Rahmen, der durch einen Aktionsplan ausgefüllt werden soll. Hierzu läuft derzeit bis Ende des Jahres ein Konsultationsprozess bei den Mitgliedsländern.
Für Inklusionen, gegen Diskriminierung
Der SoVD ist hieran beteiligt und setzt sich für folgende Ziele besonders ein: Bekämpfung der wachsenden Armut; Inklusion von Menschen mit Behinderungen, Inklusion in Arbeit und Beruf, wirksamer Schutz gegen Diskriminierung sowie flächendeckende Barrierefreiheit, Gleichstellung zwischen Männern und Frauen. Dazu sind bei der praktischen Umsetzung soweit möglich verbindliche Standards und Regeln festzulegen.
Sowohl der EU-Kommissar als auch der Bundesarbeitsminister wiesen auf die Bedeutung des kürzlich von der EU-Kommission vorgelegten Richtlinienentwurfs für europäische Mindestlöhne hin. Ebenso bedeutsam sei die einstimmig gefasste Ratsschlussfolgerung für die Mindestsicherung als unteres soziales Auffangnetz.
Streit um Mindestlohn
Die Arbeitgebervertreter gaben zu erkennen, dass auch sie die Notwendigkeit zur Berücksichtigung der sozialen Anforderungen sehen, aber in erster Linie die wirtschaftliche Entwicklung voranzubringen sei. Ohne ausreichendes Wirtschaftswachstum könne es auch keinen sozialen Fortschritt geben.
Der BDA-Vertreter Steffen Kampeter stellte insbesondere den Entwurf der Richtlinie für gesetzliche Mindestlöhne infrage. Dies sei Sache der Tarifparteien, wie es auch von den skandinavischen Mitgliedsregierungen geltend gemacht wird. Darauf entgegnete der DGB-Vorsitzende Hoffmann, dass es keiner gesetzlichen Mindestlöhne bedürfe, wenn alle Mitgliedsländer eine so hohe Tarifbindung von bis zu 80 oder 90 Prozent hätten, wie zum Beispiel in Schweden. Gerade in Deutschland habe die Tarifbindung insbesondere vonseiten der Arbeitgeber ständig abgenommen. Es gebe daher keine Alternative zu gesetzlichen Mindestlöhnen.
Wachsende Armut trotz Arbeit
Dies griff der SoVD auf und machte deutlich, dass es immer mehr Arbeitnehmer*innen in Deutschland gebe, die zu Niedriglöhnen arbeiteten und Armut bei Arbeit sowie im Alter zunehme. Ein gesetzlicher Mindestlohn sei daher unverzichtbar, zumal in vielen EU-Mitgliedsländern sowohl Lohnniveau als auch Tarifbindung noch erheblich niedriger seien, mit der Folge hoher und wachsender Armut.
Allerdings ist es nach Auffassung des SoVD unverzichtbar, den Richtlinienentwurf für Europäische Mindestlöhne zu verbessern. Die Einführung eines Mindestlohnes muss verpflichtend festgeschrieben werden. Zudem muss als Lohnuntergrenze die Armutsgrenze in der EU von 60 Prozent des Mittleren Einkommens in den jeweiligen Mitgliedsländern gelten. Dies trägt den unterschiedlichen nationalen Rahmenbedingungen Rechnung und kann vor Armut bei Arbeit schützen.
Schneller Anstieg beim Mindestlohn nötig
In der Bundesrepublik wäre danach 2020 ein Mindestlohn von 13 Euro erforderlich, damit die Löhne von heute auch vor drohender Altersarmut schützen. Mindestlohnkommission und Bundesregierung sehen aber lediglich eine stufenweise Anhebung in Trippelschritten von derzeit 9,35 Euro auf 10,45 Euro bis Mitte 2022 vor.
Vom DGB wurde ebenfalls geltend gemacht, dass die durch Armut erzwungene grenzüberschreitende Migration von Arbeitskräften zu erheblichen Missbräuchen bei Löhnen und Arbeitsbedingungen geführt habe. Die erschreckenden Vorgänge in der deutschen Fleischindustrie als Corona-Hotspots haben diese sozialen und gesundheitlichen Skandale deutlich zutage treten lassen. Auch hier liege eine drängendes Handlungsfeld für die EU.
Insgesamt bestand Einigkeit darüber, dass die konkrete Ausgestaltung der Sozialpolitik weiterhin im Zuständigkeitsbereich der Nationalstaaten bleiben müsse.